Eine Stötteritzer Geschichte

Mit einem Bevölkerungszuwachs von 522.883 (Dezember 2010) auf 601.685 (März 2020) in den vergangenen zehn Jahren gehört Leipzig zu den am stärksten wachsenden Städten Deutschlands. Wo viele Zugezogene zusammenwohnen, liegen neben Themen wie Gentrifizierung u.a. zwei Dinge auf der Hand: Zum Einen braucht es ein soziales Netzwerk für die Orientierung, für Austausch und Unterstützung. Zum Anderen ist es tendenziell eine Seltenheit, jemanden kennen zu lernen, der tatsächlich in der Stadt geboren wurde.

Eine solche Rarität ist Frau M.: 1945 im Stötteritzer Kiez geboren beobachtet sie seither die Entwicklungen in der Nachbarschaft. Wir sagen Danke, dass wir ihre Geschichte hier erzählen dürfen, denn sie zeigt auch auf, wie bereichernd ein generationenübergreifender Austausch sein kann.

Obwohl man gerade in Zeiten der Not ein starkes Netz an gegenseitiger Unterstützung und Nachbarschaftshilfe vermuten könnte, so war doch in der entbehrungsreichen Zeit der Nachkriegsjahre ein Jeder bemüht, sich und die eigene Familie mit dem Notwendigen zu versorgen.  „Meine Mutter hat mich immer mit den Kartoffelschalen zu einer Frau geschickt. Die hatte zwei Söhne und war allein. Ansonsten gab es nicht viel gegenseitige Hilfe. Wir hatten ja alle nichts“, erzählt Frau M.                   

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1950er-Jahre zogen auch wieder verschiedene Handwerke in die Stötteritzer Geschäfte und stabilisierten die Wirtschaft damit ihrerseits: Schusterei, Elektrotechnik, Molkerei, Fleischerei und um die 40 (!) Bäckereien, ein Konsum und mehrere Büchereien belebten das Viertel. Nachhaltigkeit lag dabei in der Natur der Sache. Frau M. erinnert sich in unserem Gespräch zurück, wie sie als Kind mit vielen Leuten in der Schlange vor der ehemaligen Molkerei stand, um wie jeden Samstag den Milchkrug für die Familie befüllen zu lassen.          

Diese Form der Nachhaltigkeit mag sich mehr oder minder nahtlos in die DDR-Zeiten gezogen haben, als das Leben ebenfalls von einer gewissen Ressourcenknappheit und das Stadtbild zu einem Großteil von inhabergeführten Geschäften geprägt waren. Viele dieser Geschäfte sind im Laufe der Jahrzehnte weggebrochen, entweder, weil die Familienunternehmen nicht von den Kindern weitergeführt wurden, oder aber, weil die oben bereits angesprochene Gentrifizierung Einzug hielt. So sind viele ehemalige Geschäfte aufgrund des veränderten Wohnungsbaus heute gar nicht mehr als solche zu erkennen. Auch eine echte Nachbarschaftshilfe gab es zu DDR-Zeiten kaum, so berichtet Frau M. Die soziale Spaltung im Viertel sei damals viel stärker zu spüren gewesen als heute, sagt sie.      

Umso größer ist unser Bedürfnis als Initiative, einen regionalen Austausch  zu ermöglichen. Und umso schöner ist es, dass es doch noch einige inhabergeführte Geschäfte in Stötteritz gibt.

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